In-silico-Verfahren

In silico nennt man Vorgänge, die im Computer ablaufen. Der Begriff leitet sich vom chemischen Element Silizium ab – jenem Stoff, aus dem Computerchips gemacht sind. Unter In-silico-Verfahren sind demnach computerbasierte und mathematische Modelle zu verstehen, mit denen biochemische, physiologische, pharmakologische und toxikologische Vorgänge virtuell simuliert werden können.

Wofür werden In-silico-Verfahren gebraucht?

In der Klimaforschung, der Kernphysik, der Raumfahrt oder dem Automobilbau kommen In-silico-Modelle – virtuelle Abbilder der realen Welt – schon lange zum Einsatz. Denn mit theoretischen Modellen lassen sich am Bildschirm die verschiedensten Prozesse unter immer neuen Rahmenbedingungen simulieren, von Wetterereignissen bis zum Verhalten eines Autos bei einem Zusammenstoß. Die Prozesse des Lebens sind ungleich komplexer. Doch dank Fortschritten in der Sequenzierungstechnologie, Einzelzellanalyse, Datenverarbeitung und Hochleistungsrechnern haben In-silico-Verfahren mittlerweile einen festen Platz in der biologischen und biochemischen Forschung eingenommen.

Mithilfe von Computersimulationen können Wissenschaftler:innen biologische oder biochemische Systeme nicht nur in vivo – am lebenden Organismus – oder in vitro – im Reagenzglas – erforschen, sondern auch in silico – am Computer. Die In-silico-Modelle helfen ihnen, die Systeme in ihrer Gesamtheit zu verstehen, indem sie die Wechselwirkungen zwischen den Einzelprozessen innerhalb einer Zelle in ihrem zeitlichen Verlauf abbilden.

In-silico-Verfahren dienen also dazu, komplexe biologische und pharmakologische Prozesse

  • zu modellieren, das heißt, die Elemente eines komplexen Systems abzubilden;
  • zu simulieren, sprich zu zeigen, wie sich das System im Lauf der Zeit unter dem Einfluss von Reizen entwickelt;
  • zu visualisieren, also grafisch aufbereitete Vorhersagen zu treffen.

Bei der Entwicklung neuer Wirkstoffe können Wissenschaftler:innen zum Beispiel Prozesse und Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Molekülen und Signalwegen simulieren, die an der Entstehung und dem Fortschreiten von Krankheiten beteiligt sind. Auf diese Weise gewinnen sie ein besseres Verständnis für die Krankheitsentstehung und können potenzielle Ansätze für neue Therapien identifizieren. Sie können außerdem überprüfen, wie ein neues Medikament auf den menschlichen Körper wirkt, noch bevor es in klinischen Studien getestet wird. Sie können also mögliche Wirkungen und Nebenwirkungen vorhersagen und potenziell gefährliche Wirkstoffe bereits im Vorfeld ausschließen. Dabei können sie auch Manipulationen vornehmen, die in realen Experimenten in vivo oder in vitro nicht durchführbar sind. In silico ist also eine sehr gute Ergänzung zu In-vivo- oder In-vitro-Studien.

Wie funktionieren In-silico-Verfahren?

Speziell in der Arzneimittelforschung lassen sich In-silico-Verfahren in strukturbasierte und datenbasierte Ansätze unterteilen. Bei strukturbasierten Verfahren analysieren Forschende die 3D-Struktur von Proteinen und modellieren, wie potenzielle Wirkstoffe an diese Proteine binden könnten. 
Datenbasierte Verfahren verwenden große Mengen an biologischen und chemischen Daten. Mithilfe von Algorithmen und maschinellem Lernen werden Muster erkannt und Vorhersagen über neue Wirkstoffe gemacht. 

Welche Daten werden dafür benötigt?

Für In-silico-Simulationen werden große Datenmengen benötigt. Da die Biologie eine stark beobachtende, qualitativ beschreibende Wissenschaft ist, liegen unzählige experimentelle Daten vor, beispielsweise zu Vorgängen innerhalb einer Zelle. In der Wirkstoffforschung greifen Wissenschaftler:innen auf Datensätze von Substanzen zurück, die bereits umfangreich getestet wurden, etwa in Tierversuchen, In-vitro-Tests oder klinischen Studien. Dahinter steckt die Idee, dass ähnliche chemische Substanzen auch ähnlich auf bestimmte Rezeptoren im Gewebe wirken. „Ähnlich“ bedeutet in diesem Fall, dass die Moleküle ähnliche chemische Formeln, ähnliche Atomgruppen oder eine ähnliche 3D-Struktur besitzen. Das gilt auch für Rezeptoren – spezialisierte Proteine auf der Oberfläche oder im Inneren von Zellen –, an die bestimmte Moleküle wie Hormone oder Neurotransmitter binden und die deren Signale ins Zellinnere übertragen, wo sie verschiedene zelluläre Prozesse steuern.

Aus den Proteinstrukturen bekannter Rezeptoren können Wissenschaftler:innen darauf schließen, wie andere Rezeptoren strukturiert sind und funktionieren. Je mehr Informationen vorhanden und je verlässlicher diese Daten sind, desto genauer ist auch die Vorhersage. Mit ihrer Hilfe können die Programme sogar simulieren, wie Substanzen wirken, die es bislang nur auf dem Papier gibt.

Wie werden In-silico-Modelle entwickelt?

Ein In-silico-Modell wird in mehreren Schritten entwickelt. Zunächst erstellen die Wissenschaftler:innen basierend auf den verfügbaren Daten und dem zu untersuchenden System ein mathematisches Modell. Dieses Modell wird dann durch Simulationen getestet und verfeinert. Die Simulationsergebnisse werden mit experimentellen Daten verglichen, die Modelle daran gemessen und angepasst. Fortschritte in der Modellierungstechnik und im maschinellen Lernen ermöglichen es, immer komplexere und realistischere Modelle zu entwickeln.

Beispiel aus der Forschung

Forscher:innen nutzen In-silico-Verfahren, um Medikamente schneller und effizienter zu entwickeln. Ein sehr frühes Beispiel ist die Entwicklung von Captopril, einem Blutdrucksenker. Bei der Entstehung von Bluthochdruck spielt das Enzym ACE eine wichtige Rolle. Bereits in den 1970-er Jahren modellierten und analysierten Wissenschaftler:innen ACE am Computer. So designten sie mit einfachen Modellen Captopril, ein Molekül, das die ACE-Aktivität hemmt und somit den Blutdruck senkt.

Ein Beispiel aus der jüngeren Medikamentenforschung ist die Entwicklung von Boceprevir gegen Hepatitis C. Wissenschaftler:innen analysierten mithilfe von In-silico-Modellen die Struktur der Proteine des Hepatitis-C-Virus (HCV) und identifizierten potenzielle Angriffspunkte für Medikamente. Indem sie bekannte bindende Substanzen systematisch modifizierten, optimierten sie systematisch die Bindung der möglichen Wirkstoffe. So entwickelten sie Boceprevir, ein Mittel, das die Virusreplikation effizient hemmt.

Vor- und Nachteile von In-silico-Verfahren

Vorteile

  • In-silico-Experimente sind oft kosteneffizienter und schneller als traditionelle Experimente im Labor, da sie den Bedarf an teuren Reagenzien und Materialien reduzieren.
  • In-silico-Methoden verarbeiten und analysieren große Mengen an Daten, was zu einem tieferen Verständnis komplexer biologischer Systeme führen kann.
  • Sie ermöglichen es, Ergebnisse vorherzusagen und biologische Prozesse unter verschiedenen Bedingungen zu simulieren. In der Medikamentenforschung reduzieren sie die Anzahl von Tierversuchen, da diese nur noch notwendig sind, um die vielversprechendsten Substanzen experimentell zu testen.
  •  Im Gegensatz zu In-vivo- und In-vitro-Tests lassen sich In-silico-Experimente beliebig oft wiederholen. Die Prüfparameter können nahezu unbegrenzt abgewandelt werden.
  • In-silico-Methoden können Tierversuche nicht vollständig ersetzen. Doch sie haben das Potenzial, die Anzahl von Tierversuchen zu reduzieren.

Nachteile

  • Biologische Systeme sind sehr komplex und können oft nicht vollständig in einem In-silico-Modell abgebildet werden. Das macht Vereinfachungen und Annäherungen erforderlich. Zudem sind die Vorhersagen, die sie treffen, nur so genau wie die zugrunde liegende Datenbasis. Ist diese fehlerbehaftet, sind die Ergebnisse der In-silico-Modelle es auch.
  • Um In-silico-Ergebnisse zu validieren – also um ihre Genauigkeit, Zuverlässigkeit und Vorhersagekraft zu überprüfen – sind oft zusätzliche Daten aus realen Experimenten erforderlich.
  • In-silico-Modelle können – ähnlich wie in vitro Modelle – die komplexen Interaktionen zwischen verschiedenen Zelltypen, Organen oder Organismen oft nicht vollständig erfassen. Das schränkt ihre Vorhersagekraft ein.
Ausblick

Es ist davon auszugehen, dass In-silico-Verfahren immer präziser und aussagekräftiger werden. Aufgrund des technologischen Fortschritts und der voranschreitenden Digitalisierung fallen immer mehr Daten an. Zudem werden die Datenanalysen immer ausgefeilter und umfassender. In-silico-Verfahren werden es ermöglichen, komplexe biologische Systeme auf molekularer und zellulärer Ebene detailliert zu simulieren und zu verstehen. Durch die Integration von maschinellem Lernen und Künstlicher Intelligenz können sie große Datenmengen analysieren, Muster erkennen und Vorhersagen treffen, die zur Entdeckung neuer biologischer Zusammenhänge und zur Entwicklung innovativer Therapien beitragen.

Darüber hinaus werden In-silico-Verfahren eine wichtige Rolle bei der personalisierten Medizin spielen. So können Computersimulationen dazu beitragen, die Dosis eines Medikaments auf den individuellen Bedarf eines Patienten oder einer Patientin zu abzustimmen, anstatt eine Einheitsdosis für alle zu verschreiben. Dies soll langfristig zu weniger unerwünschten Arzneimittelwirkungen und damit höherer Einnahmetreue und einer effektiveren Therapie führen.

Stand 2024
Basierend auf einem Interview mit Prof. Dr. Gerhardt Wolber und Clemens Alexander Wolf (Freie Universität Berlin)

Text
Jana Ehrhardt-Joswig

Bilder
Headerbild von Clemens Alexander Wolf (modelliert nach Haga et al., Structure of the human M2 muscarinic acetylcholine bound to an antagonist, Nature 2012)
weitere Abbildungen: Clemens Alexander Wolf