Organoide sind aus Stammzellen gewachsene, dreidimensionale (3D) Gewebemodelle, die in der Zellkultur außerhalb des Körpers Gewebestrukturen und Organfunktionen nachbilden. Sie gelten als die nächste Generation biologischer Modelle für Forschung, Medikamentenentwicklung und Medizin. Weil sie körpereigenen Organen ähneln, nannten Forscher:innen sie Organoide. Sie enthalten bislang jedoch nicht sämtliche Zelltypen eines natürlichen Organs. Also geben sie auch nicht alle Organfunktionen wieder, sondern lediglich einen begrenzten Ausschnitt. 

Wofür werden Organoide gebraucht?

2009 gelang es Forschenden erstmals, Organoide zu züchten. Mittlerweile gibt es Organoide zu verschiedenen Organen: Es gibt Haut-, Magen-, Darm-, Lungen-, Bauchspeicheldrüsen-, Leber-, Nieren-, Gehirnorganoide und noch viele weitere. Wissenschaftler:innen können an ihnen z.B. nachvollziehen, 

  • wie sich Organe entwickeln und funktionieren, 
  • wie Krankheiten entstehen,  
  • wie Organe heilen oder 
  • wie Medikamente wirken. 

Organoide kommen den ursprünglichen Gewebeverbänden weit näher als bisherige Zellkulturen oder 2D-Gewebemodelle. Handelt es sich um menschliche Organoide, vermeidet man Übertragungsprobleme von wissenschaftlichen Ergebnissen, wie sie bei dem Nutzen von anderen Spezies (z.B. Maus) auftreten können. Damit haben Organoide ein großes Potenzial für die Arzneimittelentwicklung bzw. die Medikamententestung. Auch bei der Entwicklung individueller Therapien („personalisierte Medizin“) und von Ansätzen für die regenerative Medizin gewinnen sie zunehmend an Bedeutung. 

Wie funktionieren Organoide?

Forschende können Stammzellen dazu bringen, sich zu vermehren und Tochterzellen zu bilden, die sich zu kleinen (Hohl-)Kugeln zusammenballen. Manche sind mit bloßem Auge kaum zu erkennen, beispielsweise Lungenorganoide; hingegen können Nieren-, Hirn- und Darmorganoide fast so groß wie eine Erbse werden. In ihnen funktionieren und wechselwirken die typischen Zellen der Organe ähnlich, als befänden sie sich in echtem Gewebe. Lungenorganoide etwa können auf ihrer Oberfläche Flimmerhärchen wie in einem Bronchus ausbilden. In Darmorganoiden kommen Becherzellen vor, die Schleim produzieren, wie auch Enterozyten, die in der Lage sind, Nährstoffe aufzunehmen.  

Welche Zellen werden verwendet?

Als Ausgangszellen für Organoide kommen verschiedene Arten von Stammzellen in Frage:  

  • Pluripotente Stammzellen: Sie sind die „Alleskönner“ unter den Stammzellen und können sich in jedweden Zelltyp weiterentwickeln. Die Urform pluripotenter Stammzellen sind embryonale Stammzellen (ES), die sich während der frühen Entwicklung eines Embryos bilden. Sie können jedoch nicht ohne Weiteres aus einer befruchteten Eizelle entnommen werden, da der Embryo dabei zerstört wird. Deshalb nutzen Forschende häufig induzierte pluripotente Stammzellen (iPS-Zellen) – künstlich hergestellte Stammzellen, die aus reifen Körperzellen reprogrammiert werden. Der Brite John Gurdon und der Japaner Shinya Yamanaka wurden für die Entdeckung dieses Prinzips 2012 mit dem Nobelpreis geehrt.  
  • Adulte Stammzellen: Diese werden aus spezifischen Geweben, etwa der Lunge oder der Leber, gewonnen. Sie können zu Zelltypen des jeweiligen Gewebes werden und besitzen ein geringes Differenzierungspotenzial. 

Die Wahl der Stammzellen hängt vom gewünschten Organtyp und der Verfügbarkeit von geeignetem Ausgangsmaterial ab. Bei Organen wie Leber oder Niere eignen sich adulte Stammzellen aus Gewebeproben sehr gut. Anders sieht es beim Gehirn aus: Zum einen steht kaum geeignetes menschliches Ausgangsmaterial zur Verfügung und zum anderen gibt es im Denkorgan unzählige Zelltypen, die sich ganz unterschiedlich anordnen. Für Hirnorganoide greifen Wissenschaftler:innen deshalb meist auf embryonale Stammzellen oder auf iPS-Zellen zurück.  

Wie werden Organoide kultiviert?

Stammzellen brauchen einen Mix verschiedener Faktoren, mithilfe derer sie sich in die Zelltypen des gewünschten Gewebes oder Organs entwickeln können. Forschende betten sie deshalb meist in einen Geltropfen ein. Am häufigsten kommt „Matrigel“ zum Einsatz. Das Gel besteht aus extrazellulärer Matrix (EZM), die aus Tumoren von Mäusen gewonnen wird. Bestandteile der EZM sind beispielsweise Kollagen, das die Zellen stabilisiert, oder Glykoproteine – Moleküle voll von Proteinen und Zuckerketten, die den Zellen dabei helfen, sich aneinander festzuhalten und miteinander zu kommunizieren. Die Wissenschaftler:innen stimulieren die Zellen außerdem mit einem passenden Cocktail aus Wachstumsfaktoren und Nährstoffen.  

Damit die Umgebung der Organoide den Bedingungen im menschlichen Körper ähnelt, werden sie in Inkubatoren aufbewahrt. Dort herrscht eine konstante Temperatur von 37 Grad Celsius und eine hohe Luftfeuchtigkeit (95 Prozent). Auch der CO2-Gehalt und andere Parameter werden genau reguliert. 

So gehegt und gepflegt, können manche Organoide mehrere Monate überdauern. Oftmals braucht es diesen langen Zeitraum, um die Zellen der Organoide zu den typischen Gewebezellen ausreifen zu lassen. Wenn sie dabei so groß werden, dass die Nährstoffe sie nicht mehr komplett durchdringen, sterben sie von innen heraus ab. Damit das nicht passiert, können sie wieder in einzelne Zellen zerlegt werden und von Neuem anfangen zu wachsen. Über einen längeren Zeitraum können sie auch in einer Gefrierlösung bei ultratiefen Temperaturen eingefroren werden.  

Beispiel aus der Forschung

Was passiert in und um Zellen, wenn sich Viren darin einnisten? Wie wirken Medikamente gegen die Eindringlinge? Organoide helfen Forschenden dabei, Fragen wie diese zu beantworten.  

Ein Beispiel: Grippeviren (auch bekannt als Influenzaviren) können schwere Lungenentzündungen auslösen und haben nach wie vor eine hohe Sterblichkeitsrate. Die Behandlungsmöglichkeiten sind begrenzt. Da die Krankheit bei Tieren oft anders verläuft, brauchen wir dringend Modelle, die auf menschlichem Gewebe basieren, um zu erforschen wie Viren Erkrankung hervorrufen und um neue Therapien zu entwickeln. Solche menschlichen Infektionsmodelle können helfen, Tierversuche zu reduzieren.

Berliner Forschende entwickeln Lungenorganoide aus dem Lungengewebe von Patient:innen. Diese verwenden sie zum einen, um den Effekt der Viren auf die einzelnen Zellen der Lungenorganoide zu untersuchen. Zum anderen können Lungenorganoide genutzt werden, um neue Hemmstoffe zu testen. Dabei wird überprüft, wie gut diese Hemmstoffe die Virusvermehrung und die vom Virus ausgelöste Immunantwort reduziert. So lassen sich neu entwickelte und möglicherweise klinisch relevante Hemmstoffe auf ihre Wirksamkeit überprüfen.

Wesentliche Vor- und Nachteile bzw. Limitationen

Vorteile

  • Organoide ermöglichen die Forschung an menschlichem 3D Gewebe. Dieses ist Patient:innen in mancher Hinsicht ähnlicher als ein Versuchstier. Es können „menschentypische“ biologische Funktionen untersucht werden, die anderweitig bislang nicht untersuchbar sind.  
  • Organoide sind wesentlich langlebiger als direkt in Kultur genommenes menschliches Gewebe, das z.B. bei Operationen entnommen wird. Letzteres verkümmert nach wenigen Tagen in der Zellkultur – Organoide können Monate oder sogar Jahre überdauern. Damit werden nun auch außerhalb des Körpers z.B. Langzeituntersuchungen möglich. 
  • Organoide können auch aus patienteneigenem Material hergestellt werden. An solchen personalisierten Krankheitsmodellen können Therapien und Unverträglichkeiten individuell für einzelne Menschen getestet werden.
     

Nachteile bzw. Limitationen

  • Der größte Nachteil von Organoiden besteht darin, dass sie nur einen kleinen Ausschnitt des Körpers repräsentieren können. Sie haben in den allermeisten Fällen z.B. kein Immunsystem, noch sind sie von Blutgefäßen durchdrungen oder mit anderen Organen im Kontakt. 
  • In manchen Organoiden reifen Körperzellen noch nicht zu „erwachsenen“ Zellen heran, sondern bilden eher embryonale Zellstadien aus. 
  • ­Organoide werden meist in einem tierischen EZM-Gel kultiviert, das aus Tumoren von Mäusen gewonnen wird. Ganz tierfrei (xeno-free) geht es also auch bei ihnen (noch) nicht zu. 
Ausblick

Die Forschung an Organoiden geht beständig weiter – sowohl was die Entwicklung der Organoi­de selbst als auch ihre Einsatzmöglichkeiten angeht. Wissenschaftler:innen arbeiten zum Beispiel daran, den Prozess der Organoidentwicklung mithilfe von Licht oder elektrischen Impulsen besser zu steuern und zu überwachen. Auch das EZM-Gel, in dem die Organoide heranwachsen, ist Gegenstand der Forschung: Statt aus Tumoren von Mäusen wollen Forschende es aus menschlichem Gewebe gewinnen oder synthetisch herstellen. Sie gehen davon aus, dass die darin erzeugten Organoide dann noch besser dem menschlichen Ursprungsorgan entsprechen und Tierversuche eingespart werden.

Organoiden wird bereits heute bescheinigt, unschätzbar wichtig für die personalisierte Medizin zu sein. In der Krebsforschung beispielsweise züchten Wissenschaftler:innen aus Tumorzellen von Patient:innen sogenannte Tumororganoide – dreidimensionale Tumormodelle. An ihnen können sie testen, welches Medikament im Einzelfall wirkt.  

Daneben könnten sich Organoide auch als Quelle für die Transplantationsmedizin eignen. Eine Idee ist, mithilfe der Organoid-Technologie Zellen zu züchten und in ein geschädigtes Organ einzubringen, damit sie dort Heilungsprozesse anstoßen. Auch verschiedene Gewebetypen könnten auf diese Weise hergestellt werden, beispielsweise Haut, um sie bei Verbrennungsopfern einzupflanzen. 

Von zunehmender Bedeutung für die biomedizinische Forschung sind Multi-Organ-Chips (MOC). Es ist mittlerweile möglich, mehrere Organoide auf einem solchen Chip zu platzieren, auf dem sie über einen künstlichen Kreislauf miteinander verbunden sind. Angetrieben von einer Mikropumpe, fließt eine blutähnliche Lösung durch haarfeine Kanäle. Auch Versuche mit einem künstlich erzeugten Immunsystem gibt es bereits: So testet die NASA auf der ISS-Raumstation Zellkultursysteme, die ein humanes Immunsystem, bestehend aus Immun-, Knochenmarks- und Blutgefäßzellen, simulieren. Vielleicht kann ein MOC irgendwann wesentliche Anteile eines kompletten Organismus nachbilden – dann könnte es personalisierte Chips für Patient:innen aus ihrem eigenen Zellmaterial geben, um die Reaktionen auf einen Wirkstoff individuell zu messen. Um diese Innovationen für die Gesellschaft nutzbar zu machen, braucht es konsequente Forschung und Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses. 

Download

Anschauungsmaterial

Stand 2024
Basierend auf einem Interview mit Prof. Dr. Andreas Hocke, Charité - Universitätsmedizin Berlin

Text
Jana Ehrhardt-Joswig

Bilder
Headerbild Hocke-Lab, Nachweis charakteristischer Zelltypen in Lungenorganoiden;
weitere Abbildungen stammen aus dem Hocke Lab (2+3) oder einem Video über das Hocke-Lab (1)