Mini-Organe aus humanen Zellen sind heute in der Forschung eine gängige Alternative zu Tierversuchen. Auf einem Multi-Organ-Chip können mehrere dieser Organmodelle über einen künstlichen Kreislauf miteinander verbunden werden, beispielsweise die Leber, der Darm und das Gehirn. Somit entsteht ein Mini-Organismus, der Teile des menschlichen Organismus in einem Verhältnis von 1:100.000 repräsentiert, natürlich in stark vereinfachter Form. Gegenwärtig ist eine Kopplung von bis zu fünf Organmodellen möglich.
Multi-Organ-Chips werden oft auch als „Organ-on-a-Chip“ bezeichnet oder als Mikro-fluidische bzw. Mikro-physiologische Systeme – kurz MPS.
Wofür werden Multi-Organ-Chips gebraucht?
Die Technologie wird überall dort eingesetzt, wo man Reaktionen des menschlichen Körpers auf bestimmte Substanzen testen will. Die Anwendungsfelder sind breit und reichen von der Pharmaindustrie über die Kosmetik- und Lebensmittelindustrie bis hin zur chemischen Industrie.
In der biomedizinischen Forschung werden die Bio-Chips vor allem für die Medikamentenentwicklung genutzt, aber auch, um grundlegende physiologische Prozesse und Krankheiten zu untersuchen. Ein weiteres Anwendungsgebiet ist die personalisierte Medizin. Vorhersagen des individuellen Therapieansprechens sind möglich, aber bis dato noch nicht Teil der klinischen Routine.
Wie funktioniert ein Multi-Organ-Chip?
Ein Multi-Organ-Chip ist in etwa so klein wie eine Kreditkarte und würde in jedes Portemonnaie passen. Das durchsichtige Kunststoff-Plättchen besteht aus Kompartimenten für die Organmodelle, haarfeinen Kanälen, die die Kompartimente miteinander verbinden, sowie einer Pumpe. Die Kanäle nehmen dabei die Rolle der Blutgefäße ein, die Pumpe die des Herzens. Durch die Kanäle fließt allerdings (noch) kein Blut, sondern ein Nährmedium, das die Mini-Organe mit wichtigen Nährstoffen versorgt. Bis zu acht Wochen kann so ein Kreislauf am Leben erhalten werden. Das gibt den Forschenden genügend Zeit für umfassende Experimente. In großen Maschinen laufen 24 Assays gleichzeitig und voll automatisiert.
Welche Organmodelle können verwendet werden?
Vom Herzen, über die Haut, die Lunge, den Darm, die Leber und die Nieren bis hin zum Gehirn kann praktisch jedes Organ auf einem Multi-Organ-Chip abgebildet werden – selbst die Blut-Hirn-Schranke und das Knochenmark. Je nach Fragestellung kommen Krankheitsmodelle wie zum Beispiel das eines Tumors oder einer Fettleber hinzu. Nur die Milz wird bisher kaum „nachgebaut“, weil sie als Teil des Immunsystems ein sehr komplexes Organ ist.
Diese Organmodell-Typen lassen sich auf dem Chip miteinander kombinieren:
Kulturen aus primären humanen Zellen
Kulturen aus iPSC differenzierten Zellen
Kulturen aus Zelllinien (für die biomedizinische Forschung nur bedingt geeignet)
Biopsien und „Precision Cut Tissue Slices” (Präzisionsgewebeschnitte)
Die Modelle können sowohl als fertige Vorkulturen in die Kompartimente gegeben werden als auch dort erst zum gewünschten Organ heranreifen. Dabei werden ganz unterschiedliche Zelltypen verwendet. Neben organspezifischen Zellen wie etwa Hepatozyten (Leber) können das auch aus induzierten pluripotenten Stammzellen (iPSCs) gewonnene Zellen sein. IPSCs bilden die Basis von Organoiden und finden sich auch im 3D-Bioprinting wieder. Zudem können verschiedene Immunzellen in den Zellcocktail gegeben werden.
Wichtig zu wissen: Jedes Organmodell bildet nur Teilfunktionen des jeweiligen Organs ab, und zwar solche, die für die jeweilige Fragestellung relevant sind. Darum spricht man auch von „Organmodellen.“ Dennoch können die kleinen Repräsentanten Großes leisten. Eine „Leber-on-a-Chip“ kann zum Beispiel Proteine wie Albumin produzieren, eine "Pankreas-on-a-Chip" Insulin und eine "Schilddrüse-on-a-Chip" Schilddrüsenhormone.
Nach langer Suche hat ein Studienteam einen potenziellen Wirkstoff gegen Darmkrebs ausfindig gemacht. Nun will man wissen, welche Wirkstoffmenge ausreicht, um den Tumor effektiv abzutöten, ohne gesundes Gewebe zu zerstören und toxische Nebenwirkungen zu erzeugen. Auf dem Chip werden sich dann ein Modell des Darms, des Tumors, der Leber und der Nieren befinden. Der Wirkstoff wird nun in das blutähnliche Nährmedium gegeben und die Forschenden können beobachten, wie neben dem Tumor auch die übrigen Organe auf den Stoff reagieren. Derartige Versuche waren bis dato nur im Tierversuch möglich. Ist die optimale Dosis gefunden, rechnen spezielle Computerprogramme die Dosis auf den Menschen um.
Nicht nur Tabletten, auch Stoffe, die injiziert, inhaliert, implantiert oder auf die Haut aufgetragen werden, können mit dieser Technologie auf ihre Wirkung und Nebenwirkungen hin untersucht werden.
Vorteile
Der große Vorteil des Multi-Organ-Chips ist, dass er verschiedene humane Organmodelle kombiniert. Dadurch
Nachteile bzw. Limitationen
Forscher weltweit arbeiten an einem „Human-on-a-Chip.“ Dieses Ziel ist erreicht, sobald elf Organmodelle als Minimal-Organismus miteinander verbunden werden können. Das wird schon bald der Fall sein. Ein Human-on-a-Chip wird aber weder denken noch fühlen können, und wenn er es könnte, wäre er keine gute Tierversuchsalternative.
Den eigentlichen Durchbruch erwarten Experten durch die Kombination mit Künstlicher Intelligenz. Eine lernende KI wird demnach einmal in der Lage sein, kluge Vorhersagen zu treffen und Forschende anleiten, wie die Experimente durchzuführen sind. Die weitere Entwicklung innerhalb der nächsten 10 bis 15 Jahre wird dadurch bestimmt, dass Modelle nicht mehr einzeln gedacht werden, sondern dass man die gesamte Kraft aller Systeme bündelt, um zusammen mit KI eine schlagkräftige und aussagekräftige Alternative zu Tierversuchen zu haben. Experten gehen davon aus, dass auf diese Weise 70 bis 80 Prozent der Tierversuche eingespart werden können. Für die Grundlagenforschung wird das Einsparpotenzial auf etwa 50 Prozent geschätzt.
Die Kombination von Multi-Organ-Chips mit KI wird auch die Entwicklung von personalisierten Krankheitsmodellen vorantreiben, die unter anderem im Kontext von zellbasierten Therapien eine große Zukunft vor sich haben.
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Stand 2024
Basierend auf einem Interview mit Dr. Reyk Horland, CEO der Firma TissUse
Text
Beatrice Hamberger
Bilder
Headerbild TissUse GmbH | Hand mit Chip2 96-well
weitere Abbildungen: TissUse GmbH